16/10/2023
Der Planet und seine Verworrenheit
Sun & Sea (Marina), Opernperformance von Rugile Barzdziukaite, Vaiva Grainyte, Lina Lapelyte auf der Biennale Arte 2019, Venedig. Fotografiert von Martynas Norvaisas.
Ein Interview mit Lucia Pietroiusti von Anna Nagele
Lucia Pietroiusti arbeitet als Kuratorin mit Kunst, Ökologie und Systemen. Wieder und wieder inszeniert sie die Natur als wirkende Kraft neben menschgemachten Objekten und dem alltäglichen Leben. Zum Beispiel Urlauber:innen an einem künstlichen Strand in der Opernperformance Sun & Sea (Marina) von Rugile Barzdziukaite, Vaiva Grainyte und Lina Lapelyte, die sie für den Litauischen Pavilion der 58. La Biennale di Venezia kuratiert hat; die Biennale Gherdëina (co-kuratiert mit Filipa Ramos), in der die Umgebung selbst, die reiche Natur, tief in der Ausstellung verwurzelt war; oder die Erforschung des Bewusstseins anderer Lebensformen in der Serie The Shape of a Circle in the Mind of a Fish.
Anna Nagele
Ich verfolge deine Arbeit nun seit einigen Jahren. Regelmäßig findet man dich in ländlichen Gegenden, in unterschiedlichen Ländern und außerhalb Londons. Kannst du uns etwas über die Methoden erzählen, wie du dich auf örtliche ökologische Gegebenheiten einstellst?
Lucia Pietroiusti
Eine Tugend aus der Not, vielleicht. Vor dem General Ecology Projekt in der Serpentine (Gallerie in in London, Anm.der Redaktion) habe ich als Kuratorin für deren Öffentlichkeitsprogramm gearbeitet. Serpentine hat in dem Sinn kein eigenes Auditorium. Als es darum ging, die Aktivitäten des General Ecology Projekts zu planen, hatten wir bereits ein großes Netzwerk an Partnerorganisationen für Veranstaltungsorte innerhalb Londons, wo wir viele unserer Live-Events austragen konnten. Später, als wir im Rahmen von General Ecology über diese Tatsache nachdachten, traten viele verschiedene Ökologien in den Vordergrund, die unsere Entscheidungen beeinflussen sollten: was das Konzept von uns verlangt, wie das Publikumserlebnis aussehen könnte, wie wir mit den Ressourcen umgehen sollten (z. B. die Nutzung bereits vorhandener technischer Einrichtungen in den Partner-Locations, anstatt alles von Grund auf neu zu bauen), und so weiter.
Das hat mich dazu angeregt, sowohl in der Serpentine als auch außerhalb, Programmgestaltung oder das Kunstgeschehen als unglaublich dezentralisierte Aktivität zu betrachten. Eine Aktivität, die Teil dieses Planeten mit seiner Verworrenheit ist, anstatt sich davon zu befreien. Seither haben sich viele weiter Programme diese Idee zu Herzen genommen. Zum Beispiel Back to Earth, eines von Serpentines Langzeitprojekten, besteht aus umweltpolitischen Künstler:inneninitiativen, die in so vielen unterschiedlichen Orten stattfinden wie es unterschiedliche Hingabe, Fronten und Orte gibt, die die Künstler:innen selbst auswählen. Zugleich hat sich Sun & Sea während seiner internationalen Tour verändert und geht auf lokale Aspekte des Klimawandels und -schutzes ein. Wir versuchen, auf subtile Weise diese Anliegen in den Inhalt des Stückes und die szenografischen Entscheidungen einzuarbeiten.
AN Und wie sorgst du dafür, dass du an den Orten etwas Positives hinterlässt?
LP Es gibt einige konkrete Beispiele, die ich nennen kann. Für Sun & Sea in Venedig arbeiteten wir mit den Designstudio Åbäke zusammen, um das Vinyl und den Katalog zu entwerfen, der dann von einem lokalen Siebdruck Kooperativ gedruckt wurde, welches von den Insassen des Männergefängnisses der Stadt betrieben wird. Der Sand von der Bühne wurde für neue Sandkästen auf Spielplätzen in den umliegenden Gebieten von Venedig verwendet. Viele der Back to Earth Projekte versuchen strategisch, lokale Betriebe auf unterschiedliche Art und Weise zu unterstützen; von der Wissensvermittlung hin zur Öffentlichkeitsarbeit, oder direkt durch unterschiedliche materielle Unterstützung – dabei wird versucht, das auf die `sanftest-mögliche’ Weise zu machen – zum Beispiel durch das `Trojanische Pferd’ einer Kunstkommission. Aus der Zusammenarbeit von WePresent und Back to Earth sind Gelder an Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen geflossen, welche direkt von den involvierten Künstler:innen ausgewählt wurden. Sowas ist nicht immer möglich, aber wir arbeiten mit jedem bzw. jeder Künstler:in daran sicherzustellen, dass wir neben der einfachen Schadensbegrenzung auch positive Veränderungen, Reparaturen und Erneuerungen anstreben.
Barbara Gamper, Somatische Begegnungen – irdische Materie(n). You Mountain, You River, You Tree, 2022. Aufführung in Vallunga, Wolkenstein. Im Auftrag der Biennale Gherdëina ∞. Fotografiert von Tiberio Sorvillo.
AN Welche Rolle spielen die natürlichen Rhythmen und Muster der Jahreszeiten, der Migration usw. für deine Arbeit als Kuratorin?
LP Auf diese Frage gibt es so viele Antworten wie künstlerische Praktiken, würde ich sagen! Wenn wir zum Beispiel entlang der Raumpraktiker Cooking Sections und deren Projekt CLIMAVORE denken, könnten wir darüber nachdenken, wie der Klimawandel die Jahreszeiten überall auf der Welt stört – und dann daran arbeiten, wie man Lebensmittel so essen und produzieren kann, dass sie sich nicht nur an diese gestörten Rhythmen anpassen, sondern auch positiv zur Gesundheit des Ökosystems beitragen.
Wenn man die historische Verbindung zwischen ökologischem und systemischem Denken betrachtet, könnte man kuratorische, institutionelle oder programmatische Strukturen den Prinzipien von Biomimicry folgend neu konzipieren – wie könnte zum Beispiel das Programm eines Museums die Prinzipien der Permakultur aufgreifen? Oder könnte eine Organisation mehr wie ein Wald funktionieren – und so weiter.
Als Kuratorin konzentriere ich mich hauptsächlich darauf, solche Möglichkeiten zu erkennen, diese Fragen auszuarbeiten und sie dann auszuprobieren oder in einem öffentlichen Rahmen zum Vorschein zu bringen. Es interessiert mich, wie wir nicht nur an einigen Studen pro Tag `Umweltforschung betreiben’ sondern wie wir tatsächlich auf diesem Planeten sind, jede Sekunde eines jeden Tages – wie können wir also diese Grenzen, die die Dinge voneinander trennen (Disziplinen, Institutionen und Organisationen, das arbeitende, liebende und trauernde Selbst) auflösen? Wir sind alle ein Selbst, das aus vielen Versionen von sich selbst besteht und gehören zu einer Welt, die aus vielen Welten besteht (um diesen Ausdruck von Marisol de la Cadena und Mario Blasers exzellentem Buch [footnote: de la Cadena, M. & Blaser, M. (2018) A World of Many Worlds. Duke University Press.] auszuleihen).
AN Ich arbeite und forsche in dem Bereich Human-Computer-Interaktion und sehe eine Veränderung in diesem, seit wir so vielen riesigen sozialen und ökologischen Krisen gegenüberstehen. Es wird immer mehr in Frage gestellt, den Menschen im Design und der Entwicklung in den Mittelpunkt zu stellen. Die negativen Auswirkungen der menschlichen Einzigartigkeit, die die letzten Jahrhunderte in der Westlichen Welt geprägt hat, werden sichtbar. Diese Veränderungen vollziehen sich langsam und schleichend, und ich denke, wir können etwas lernen, wenn wir uns mit Kunst beschäftigen. Wie setzen sich Kunst oder Kunstinstitutionen kritisch mit planetaren Herausforderungen auseinander? Wie können sie eine aktive Rolle bei der Überbrückung der Kluft zwischen Natur und Kultur spielen?
LP Entscheidend für deine Beschreibung des menschlichen Exzeptionalismus ist natürlich die Vorstellung, dass sich der Anthropozentrismus als Konzept nie darauf bezog, die Erfahrung aller Menschen (als Spezies) in den Mittelpunkt zu stellen – und in der Tat ist er ziemlich gewalttätig, wenn es darum geht, die Grenzen zu überwachen, wer – und wer nicht – in diese `Anthropos’-Kategorie fällt. Ich denke, dass das mehr-als-menschliche Projekt ein Projekt ist, das in vieler Hinsicht mit menschlichen Projekten übereinstimmt; jenen Projekten, die auf den Grundlagen von Justiz, Anti-Extraktivismus und Lebensrechten beruhen. Lebensgrundlagen und Landschaften sind immer damit verbunden und davon abhängig. Sind wir einem grundlegenden Paradigmenwechsel überhaupt nahe? Ich bin mir da nicht so sicher. Seltsamerweise scheint das schneller zu gehen, wenn wir an technologische, mehr-als-menschliche Wesen denken (KI und so weiter), als mit unseren ökologischen mehr-als-menschlichen Müttern. Das bringt riesige Herausforderungen mit sich, wenn man sich vor Augen hält, wer zur Zeit die größte Macht und Einfluss im technologischen Fortschritt hält und welchen Einfluss diese Bereiche auf die planetaren Ressourcen haben. Aber es geht hier nicht um Bäume gegen Computer. Es geht darum, wie wir neue Erfahrungen machen können, die ein neues Licht auf die Gegenwart werfen könnten – und vielleicht entstehen aus diesen neuen Perspektiven auch neue Möglichkeiten. Was machen Künstler:innen und Kunstorganisationen aus alldem? Wir probieren Dinge aus. Wir schlagen Dinge vor. Wir machen Sprünge in der Vorstellungskraft. Eine Flaschenpost im riesigen Ozean der Gegenwart.
Chiara Camoni, Sister, 2022. Ansicht im Castel Gardena, Selva Gardena. Im Auftrag von Biennale Gherdëina ∞. Foto von Tiberio Sorvillo.
AN Für mich war Donna Haraway mit ihren Ansichten über Cyborgs mein erster Zugang zu Ideen rund um die Handlungsmacht nicht-menschlicher Agenten und zur gesellschaftlichen Rolle, die Technologie spielt. Das meinen Ansatz grundlegend dahingehend beeinflusst, Geräte oder Digitale Services nicht nur mit dem Ziel zu entwickeln, Menschen zu dienen, sondern sie tatsächlich als eigenständige, handlungsfähige Mittler zu betrachten – und all die Auswirkungen zu beachten, die das mit sich bringt. Davon ausgehend habe ich mir dann mehr über die Verflochtenheit und die gegenseitige Verwundbarkeit allen Lebens auf der Erde Gedanken gemacht. Was meiner Meinung nach so wichtige Themen sind, die man beachten muss, wenn man etwas Neues schafft.
Woher kommt dein Interesse an dieser mehr-als-menschlichen Welt?
LP Darüber gibt es viel zu erzählen. Einerseits kommt es von einer tiefgründigen Auseinandersetzung – und der intellektuellen Erfüllung, die ich darin gefunden habe – mit den Disziplinen der Theologie, Anthropologie und Wissenschafts- und Technologiestudien. Das hat sich entlang meiner Arbeit mit meiner guten Freundin und Kollegin Filipa Ramos entwickelt, deren Forschung sich dem Wahrnehmungsvermögen von Tieren verschrieben hat. Unsere Forschungswege führen manchmal zusammen, dann wieder auseinander – ich bin zum Beispiel an einem gewissen Punkt an der Wahrnehmung und Intelligenz von Pflanzen hängen geblieben, ein Forschungsgebiet, dem ich mich immer noch sehr verbunden fühle. Zusammen mit anderen geschätzten Kollegen, Andrés Jaque und Marina Otero Verzier, haben wir ein Buch zusammengestellt, More-than-Human, das 2020 veröffentlicht wurde.
Obwohl mein Hingabe und professionelle Beschäftigung mit Umweltfragen bis zum 2014 Festival Extinction Marathonzurück reicht, welches wir gemeinsam mit dem künstlerischen Leiter der Serpentine, Hans Ulrich Obrist und dem Künstler Gustav Metzger kuratiert haben, sind für mich die Fragen rund um das mehr-als-menschliche Bewusstsein und Muster auf einem emotionalen Level durch die Geburt meines Babys aufgekommen. Babys sind natürlich Menschen, aber sie verhalten sich ähnlich wie andere, mehr-als-menschliche Wesen! Wenn man so eine kleine Kreatur in den Armen hält, ist es einfach, sich bewusst zu werden, dass man auch ohne Sprache Verantwortung, Zuwendung, Liebe und Kommunikation erfahren kann. Das ist nur ein Beispiel.
AN Du spielst eine wichtige Rolle darin, unsere Kultur in eine Richtung zu lenken, sich gegenseitig mehr umeinander zu kümmern – sowohl um Menschen als auch um Nicht-Menschen. Siehst du positive Veränderungen in der weiteren Kultur?
LP Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Rolle wirklich spiele. Mehr als alles andere sehe ich meine Rolle eher darin, zu spüren und zu spielen – zu erfühlen, was schon da ist, damit Formen zu schaffen – als zu lenken. Aber was die Wünsche angeht: Ja, da gibt es viele. Wenn wir doch alle die Dinge etwas systemischer betrachten könnten; und eine sanfte aber dennoch bestimmte Hingabe zu Fragen rund um Balance, Gerechtigkeit und “Verpflichtungen” (um Elizabeth Povinellis Worte zu verwenden) hätten, würden wir vielleicht weniger im Lärm sinnloser `grüner’ Behauptungen stecken bleiben und über die direkte Realität hinaus das Meer an Möglichkeiten erkennen. Diesen Rat gebe ich natürlich auch mir selbst. Ich stecke genauso tief im Schlamassel wie alle anderen.
AN Noch eine letzte Frage, woran arbeitest du im Moment?
LP Dieses Jahr möchte ich mich wirklich nur auf Bücher konzentrieren. Das kommt einerseits von dem Bedürfnis, mein Arbeitstempo zu verlangsamen, um zu sehen, ob sich neue Gedanken, neue Perspektiven ergeben, wenn ich den Arbeitsrhythmus ein wenig verändere. Andererseits habe ich das Gefühl, dass wir, zum Beispiel durch General Ecology, so viel getan und gezeigt haben, dass es jetzt an der Zeit ist, diese Methoden auf Papier zu bringen und auch die Prozesse, nicht nur die Ergebnisse, zu teilen. Filipa und ich arbeiten an einem wirklich umfangreichen Buch, das unsere Erkenntnisse aus den bislang fünf Iterationen des Festivals The Shape of a Circle in the Mind of a Fish zusammenbringt. Unabhängig davon arbeite ich an einer Serie kleiner Publikationen mit dem Titel Handbooks of General Ecology, in denen ich versuche, die Methoden, Empfehlungen und das Wissen, die aus den letzten fünf Jahren des Projekts hervorgegangen sind, zu sammeln. Ich hoffe, dass diese Büchlein ein bisschen hilfreich, ein bisschen poetisch und auch ein kleines bisschen verrückt sein werden. Nur eine Prise von allem!
Hylozoic Desires (Himali Singh Soin and David Soin Tappeser), an omniscience, 2022. Performance in der Vallunga, Selva Gardena. Im Auftrag von Biennale Gherdëina ∞. Foto von Tiberio Sorvillo.
Sun & Sea (Marina), opera-performance by Rugile Barzdziukaite, Vaiva Grainyte, Lina Lapelyte auf der Biennale Arte 2019, Venedig. Foto von Andrej Vasilenko.
Fußnoten
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Hallo! Die Integration von Fremdsprachen in einige deiner Beiträge fügt eine interessante kulturelle Dimension hinzu. Wie entscheidest du, wann und wie du Fremdsprachen einbeziehst, und gibt es bestimmte kulturelle Einflüsse, die dich dazu inspirieren?
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